Erlöserkirche Vahrendorf
Liebe Vahrendofer Gemeindemitglieder!
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Karfreitag. Der klagende Psalmruf lässt uns erahnen, wie tief, ja abgrundtief die Not Jesu am Kreuz war. Die Jünger Jesu? Aus Jerusalem geflüchtet! All die Menschen, die Jesus mit almwedeln einen jubelnden Empfang in Jerusalem bereitet hatten? Nur fünf Tage nach dem „Hosianna!“ ihr „Kreuzige ihn!“
Mit dem 22. Psalm klagt Jesus am Kreuz seine Verlassenheit von allen Menschen und von Gott: „Ich schreie doch meine Hilfe ist ferne. Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.“ Und kurz nachdem er klagend Gott angefleht hatte, schrie Jesus „abermals laut und verschied.“ (Matthäus 28,50)
Die Kreuzigung und der Tod Jesu waren und sind immer wieder Anlass, Gott als grausam zu beschreiben: Er schickte seinen Sohn in den Tod; und erst dann ist Gott versöhnt mit uns Menschen. So als bräuchte Gott das Blut, um uns Menschen von aller Schuld und Sünde, von allem Scheitern und Versagen reinzuwaschen. Das scheint so ganz und gar im Widerspruch zum Weg Jesu zu stehen. Zu dem Weg, auf dem Jesus im Namen Gottes allen Menschen die Wärme und die Nähe Gottes anbot. Nicht nur den Jüngern – jeder und jedem galt die Zusage: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben.“ (Johannes 12,19) Doch sollten Gottes Liebe und Menschenfreundlichkeit durch Gewalt und Tod zum Ziel kommen – und nur so? Sollten Jesu Leiden und Kreuzigung, Sterben und Tod zu Gottes Plan gehören? Sollte Gott diese Zusage an Jesus zurückgenommen haben: „Du bist mein lieber Sohn. An dir habe ich Wohlgefallen.“? (Markus 1,11)
Doch wer genau hinschaut, entdeckt: Hier handeln Menschen. Religiöse und politische Autoritäten bestimmen mit ihren Interessen das Geschehen, kaum dass Jesus zum Passahfest auf einem Esel nach Jerusalem eingezogen war. Drumherum das Volk, offenkundig auf ein großes Spektakel hoffend. Jesus, von so vielen als Messias gepriesen, erscheint wie ein Spielball, hin- und hergeworfen von den Mächtigen, die glauben, bestimmen zu können, was richtig ist. Und doch erscheinen sie nur als Getriebene eigener Macht- und Herrschaftsgelüste; gefangen in einem Spinnennetz aus Menschenverachtung und Egoismus, gefesselt vom Willen, sich die Karten nicht aus der Hand nehmen zu lassen – koste es, was es wolle. Der Karfreitag Jesu war ganz und gar Menschenwerk; vom ersten bis zum letzten Moment.
Und zugleich: Im Namen Gottes stand Jesus mit leeren Händen da und hat sich ganz auf Gott verlassen, hat nicht die Hand gehoben, sich zu wehren. Er hat sich zugleich am Kreuz mit seinem klagenden Ruf an den gewendet, der in diesen Stunden auf Golgatha so unendlich fern schien.
Wenn ich in diesen Tagen die Spuren des Passionsweges, des Leidensweges Jesu nachzeichne, dann habe ich Bilder dieser Tage vor meinem inneren Auge. Seniorenwohnanlagen, in denen ein Virus größte Sorgen auslöst. In Krankenhäusern vieler Länder der verzweifelte Kampf um das Leben jedes einzelnen Menschen. Kolonnen von Militärfahrzeugen in Italien mit Verstorbenen. Townships in Südafrika, wo Zehntausende auf engstem Raum in kleinen Hütten wohnen und sich nicht schützen können. Die Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln, ohne dass die dort Lebenden voneinander Abstand halten können. Und Syrien ist nach wie vor Schauplatz eines endlosen, menschenverachtenden Bürgerkrieges. Leid und Not rundum auf unserem kleinen Erdball. In diesen Tagen scheint es, als würde uns allen die Not unter Haut kriechen.
Mit Jesu Worten haben Menschen immer wieder ihre Verlassenheit ausgedrückt: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Bis heute nehmen Menschen dieses Warum auf und suchen zu verstehen, was ihnen widerfährt, was ihnen unter die Haut geht. Eine Suche, die auf der ersten Blick ziellos und ohne Antwort scheint: Denn da ist ja nicht nur das Fragen nach dem Warum von Leiden und all dem Dunklen, von Sterben und Tod. Da ist auch die Frage nach dem Gott, den wir als Vater des Lebens und als Schöpfer der Welt anbeten. Wendet er sich ab und überlässt uns jedem Schicksal?
Als Jesus am Kreuz seine Not mit den ersten Worten des 22. Psalms herausschrie, da wusste er wie Juden zu allen Zeiten auch um weitere Worte dieses Psalms: „Aber du, Herr, sei nicht ferne; meine Stärke, eile, mir zu helfen!“, fleht der Psalmist einige Verse später. In allem Erleben, einsam, verloren und verlassen zu sein, liegt in diesem Psalm der Keim der Hoffnung: Gott wird sich als stärker erweisen als alles Dunkel. Er wird dem Tod nicht das letzte Wort lassen. Er wendet sich nicht ab und will niemanden quälen. Vielmehr sind alles Leiden und Sterben, alle Krankheit und alles Unfassbare bei Gott aufgehoben. Von dieser tiefen Hoffnung ist der Leidenspsalm Jesu durchdrungen. In dieser letzten und tiefsten Hoffnung betete Jesus am Kreuz. Gegen allen äußeren Anschein, trotz allem Finsteren sucht er den treuen Gott, der verheißen hat, den glimmenden Docht nicht auszulöschen.
Karfreitag in diesem Jahr: Ängste und Leiden, Gewalt und Hass zerreißen unsere Welt immer noch. Doch für uns hat Jesus die Worte am Kreuz gebetet, für uns hat er sie zu Gott getragen. Dort, wo Jesus nicht weiter sehen konnte, war Gott seine letzte Zuflucht und hoffte gegen alles Offensichtliche, gegen alle Angst und alles Dunkel auf dies Eine: Hinterm Horizont geht’s weiter – um Gottes willen. Amen.
Ihr Pastor Jörg Pegelow
„Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt,
Keim, der aus dem Acker, in den Morgen dringt –
Liebe lebt auf, die längst erstorben schien:
Liebe wächst wie Weizen und ihr Halm ist grün.“
Evangelisches Gesangbuch 98,1